Meine Titanic
- gaarz8
- 2. Apr. 2024
- 2 Min. Lesezeit
Folge 6
Der Bus quälte sich die Serpentinenstrecke über die Berge in Sardinien von einem Küstenort zum anderen. Ich war ins Plaudern gekommen mit meiner Platznachbarin, einer jungen Frau von Anfang dreißig. Sie kam aus Kanada, erzählte sie und hatte anscheinend schon viel von der Welt gesehen. Ich ja auch, damals Ende der 90er-Jahre. Wir lachten, freuten uns über kleine Anekdötchen, tauten immer mehr auf. Sie gefiel mir.
Aber hübsch war sie eigentlich nicht, ein langes Gesicht, eine große Nase, dunkle Ringe unter den Augen, strähnige Haare. Doch mich faszinierte ihr fröhliches Lachen. Und ihre Augen strahlten. Aus unserer Plauderei wurde immer mehr ein Flirt-Pingpong. Wir lächelten uns an. Die Zeit verging wie im Flug.
Schließlich sah ich unser Ziel näherkommen, das luxuriöse Urlaubsresort an der Costa Smeralda. Dorthin war ich als Gast eingeladen worden. Vom Beratungskonzern McKinsey, der auf Sardinien ein weltweites Jahrestreffen machte, eine Mischung aus Urlaub, Kontaktbörse – und Wissensvermittlung in dosierten Häppchen. Mein Part war, den jungdynamischen Managertypen die Sprache eines Ernest Hemingway und eines Kurt Tucholsky näher zu bringen ("Wie baue ich interessante, kurze Sätze?").
Als "Externer" wurde ich in einem Nachbarort untergebracht und fuhr jetzt zum abendlichen Gala-Diner. Meine Busnachbarin hatte das gleiche Ziel. Und gerade wollte ich all meinen Mut zusammennehmen und sie bitten, unser nettes Gespräch als Tischnachbarn auf dem abendlichen Fest fortzusetzen ... da sah sie das Eingangstor des Urlaubsresorts und stand abrupt auf: "I'm so sorry. They are waiting for me." Dann legte sie mir die Hand auf den Arm: "It was very nice to meet you." Beim Aussteigen winkte sie mir noch einmal zu: "See you".
In der Tat sah ich sie drei Stunden später erneut, nachdem ich missmutig das Gala-Diner mit wichtigtuerischen Wirtschaftsexperten als Tischnachbarn verbracht hatte. Der Höhepunkt des Abends nahte. McKinsey hatte tief in die Tasche gegriffen. In der Mitte des Areals war ein künstlicher Teich angelegt, darauf schwamm ein Teil eines riesigen Schiffswracks mit einem großen Schornstein. Und davor auf einer kleinen Bühne stand sie – eine strahlende Schönheit in einem silbernen, hautengen Seidenkleid. Aus den struppigen Haaren war eine hinreißende Langhaarfrisur geworden.
Dann setzte die Musik ein und die weltbekannte, unnachahmliche Stimme sang vor der Kinokulisse der "Titanic" ihren Welthit "My Heart Will Go On". Und ich träume noch heute davon, dass Céline Dion diese Zeilen nur für mich sang: "You are safe in my heart / And my heart will go on and on."



